Demokratie in Zeiten der Konfusion

«Die Entzauberung der Demokratie als Herrschaftsform hat durch die globalen Krisen der gegenwärtigen Epoche eine systemgefährdende Qualität erreicht.»

Dies der Klappentext des Buches Demokratie in Zeiten der Konfusion von Helmut Willke, einem Professor für Global Governance. Bedeutung hat das Wirken Helmut Willkes für die soziologische Systemtheorie. Diese hat den Anspruch, eine Theorie im Sinne eines umfassenden Theoriegebäudes für alle Formen von Sozialität (Zweierbeziehung, Gruppe, Familie, Organisation, Funktionssystem, Gesellschaft) zu sein.

Das «Umweltdorf» ist auch eine Form, wenn auch eine noch hypothetische Form von Sozialität. In einem der ersten Gespräche über dieses Projekt sagte Nadine, es klinge schon etwas jöö, dieses Wort. Das ist beabsichtigt. Thema und Stossrichtung haben auch mit Soziologie, also der Wissenschaft, die sich mit der theoretischen Erforschung des sozialen Verhaltens befasst, zu tun. Und, wie es der Name sagt, mit den aktuellen Diskussionen rund um unsere Umwelt und das Klima. Wir lassen uns aber auch leiten durch den Gedanken, dass Werte, individuelle Werte und Wertesysteme in Gruppen eng verknüpft sind mit den Emotionen des Menschen. Doch dazu später mehr.

«Das Dorf», die menschlichen Beziehungen stecken in einer Krise. Globalisierung und die Digitale Revolution führen zu einer Form der Gesellschaft hin, die sich erst am Horizont abzeichnet. Und zusammengebraut hat sich darüber, bildhaft, die Klimakrise. Dies ergibt eine nicht nur sehr anspruchsvolle, sondern offensichtlich eine das Individuum und absehbar die Gesellschaft überfordernde Umwelt. Ja, das System, die Systeme sind gefährdet. Nicht nur die Demokratie ist gefährdet. Die Spezies Mensch als vermeintliche Krönung der Schöpfung scheint gefährdet zu sein. Dies ist die Ausgangslage. Keine Hysterie und keine Panikmache. Wir sprechen hier nicht ohne Grund und nicht ohne Mut von Gestaltung einer lebenswerten Umwelt mit Zukunft.

Die Klimastreiks und die Aktionen von Extinction Rebellion (XR, englisch für “Rebellion gegen das Aussterben”) halte ich dabei nicht für falsch oder unnötig. Krisen rufen nach einer Krisenintervention, in der einen oder der anderen Form. Ein «Stopp-Signal» ist auch eine Form der Intervention. Ja, und jetzt kommen wir noch mit dem Jöö, um nicht ganz den Mut zu verlieren. Der Philosoph Richard David Precht fragte seinen Interview-Gast, die Umweltaktivistin Carla Reemtsma, «ob sie, obwohl sie befürchte, die Menschheit sei nicht zu retten, noch einen Strohhalm sehe und denke, man müsste alles tun, um es zu versuchen?» Was das klimapolitische Engagement betreffe müsse man ein ganz grosser Optimist sein und Hoffnung haben, Hoffnung in Menschen und Hoffnung in die Politik, entgegnet sie ihm. Wir teilen diese Hoffnung und rufen nach Gestaltung, im Kleinen wie im Grossen. In der Gruppe, im Quartier oder im «Globalen Dorf», wie es Marshall McLuhan in seinem Buch Die Gutenberg-Galaxis prägte und in seinem letzten Buch The Global Village ausformulierte. Er bezog sich auf die moderne Welt, die durch elektronische Vernetzung zu einem «Dorf» zusammengewachsen ist.

Der Wandel der Werte scheint der Schlüssel zu sein, der zu einer Rettung führen kann, schrieb Erwin Wullschleger schon vor über 30 Jahren in der Gedenkschrift für Walter Bosshard, einem Direktor des WSL (damals Eidg. Anstalt für das forstliche Versuchswesen):

«Die Einsicht in die Tatsachen und Zusammenhänge der Umweltprobleme ist eine, aber nicht die alleinige Voraussetzung für Fortschritte bei den Massnahmen. Die Bereitschaft zum Handeln erwächst nur zum kleinsten Teil aus Einsicht und Vernunft. Einschneidende Änderungen im menschlichen Verhalten bedürfen stärkerer Antriebe. Die Erfahrung zeigt, dass selbst existentielle Bedrohungen nicht zwingend zu raschen und situationskonformen Verhaltensänderungen führen. Offenbar sind Antriebe nötig, die nur aus einem grundlegenden Wandel eines Teils unserer gesellschaftlichen Wertvorstellungen erwachsen können.»

Was führt zu einem Wandel der Werte und damit zu den dringend notwendigen Voraussetzungen für lebensfreundlicheres Handeln in allen Bereichen der Gesellschaft? Das Denknetz beispielsweise als politisch links positioniertes Forum für den Austausch zu aktuellen Themen aus Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik will sicher auch dazu beitragen. Es sei den Grundwerten der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität verpflichtet, schreibt der Thinktank auf seiner Website. Das Denknetz konstatierte vor 15 Jahren zunehmende soziale Ungleichheit und eine Tendenz zur Entsolidarisierung in der Gesellschaft. Es will die Mechanismen dieser Dynamik besser verstehen und Alternativen erkunden und diskutieren. Es gibt aktuell andere Organisationen, die sich als «überzeugte Vertreter einer liberalen und demokratischen Zivilgesellschaft, die dem Einzelnen möglichst grosse Entscheidungs- und Wahlfreiheit garantiert», in die Diskussionen einbringen. «Sie stehen ein für individuelle Freiheit, offenen Wettbewerb, gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen und minimale Staatseingriffe», wie sie auf ihrer Website anmerken. Der Klimawandel sei ein Chance und kein Problem, hat kürzlich ein im zweiten Wahlgang wiedergewählter Ständerat bemerkt. Also Krankheit als Chance, wie es der Arzt Ruediger Dahlke betitelt hatte?

«Warum ist das Thema Klima derart politisch aufgeladen? Warum gilt man, wenn man den menschengemachten Klimawandel für eine Tatsache hält, heute automatisch als links? Und warum als rechts, wenn man ihn anzweifelt?», wurde Reto Knutti, einer der weltweit führenden Klimaforscher und Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich im Interview gefragt. Das Problem seien weniger die Erkenntnisse der Forschung, sagte Knutti. Das Problem sei, dass sich die Massnahmen, die zur Lösung erforderlich seien, automatisch politisch einreihten. Das Klimaproblem sei eigentlich ein Kollektivproblem, das Lösungen erfordere, die im Dienst der Gesamtgesellschaft stünden, sagt Knutti. «Das passt wunderbar ins Narrativ der Linken, und es passt überhaupt nicht in ein neoliberales Weltbild, das auf eine maximale Freiheit und einen minimalen Staat setzt.»

Mir gefällt dazu der kurze Kommentar von Isabelle, den sie vor ein paar Tagen auf Facebook in der Gruppe «Mission B – jeder Quadratmeter zählt» hinterlassen hat: «Wir können uns gegenseitig die Argumente, Meinungen und Fakten um den Kopf schlagen, wie das seit eh und je der Fall ist. Ob das der Biodiversität dienlich ist, kann hinterfragt werden. Vielleicht sollten alle einen Schritt zurück treten, alte Konzepte, Vorgehensweisen und Grabenkämpfe hinter sich lassen. Es gibt auch einen gemeinsamen Weg.» Es gilt dies nicht nur für die Biodiversität im engeren Sinn, sondern auch für das System Erde-Mensch, denken wir. Und weil gemäss der sogenannten Dunbar-Zahl, einem Konzept des Psychologen Robin Dunbareiner die theoretische «kognitive Grenze» der Anzahl Menschen, mit denen eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann, irgendwo zwischen 100 und 250 Freunden liegt, auch darum verwenden wir gerne das Wort «Dorf», sinnbildlich für eine Umwelt, die das Individuum erfassen und aktiv mitgestalten kann – aktiv im ganz praktischen Sinn, nicht nur durch Argumente und Meinungen, wohlgemerkt.

Um solchen Gruppen und dem erwähnten, gemeinsamen Weg in der Schweiz einen geschützten Rahmen, eine Plattform für konstruktive Zusammenarbeit, für Austausch und Kommunikation geben zu können, haben wir im ersten Schritt umweltdorf.swiss geschaffen. Es ist ein virtueller Coworking Space, basierend auf Open Source Software und damit bei Bedarf zum Beispiel für lokale Anwendung analog den Village Offices auch kostengünstig reproduzierbar. Und es ist auch bereits ein Job Board für Umweltjobs. Weitere Formen, Gefässe und Kanäle sind denkbar. Lasst uns den «Dorfplatz» bespielen.

Und dann möchten wir mehr als ein reales Umweltdorf ins Leben rufen: Gemeinden in der Schweiz, die mehr tun für eine lebenswerte Umwelt mit Zukunft, mehr auch als ihnen das Gesetz vorschreibt – Städte und Quartiere, in denen die Menschen sich besonders engagieren für ihr Zusammenleben und die Umwelt sollen aufgenommen werden ins GemeindeRating dieses Netzwerks und Umweltsterne erhalten und/oder das Label «Umweltdorf» erhalten, vergleichbar aber weiter gefasst als Energiestadt oder zum Beispiel dem Concours des villes et villages fleuris in Frankreich.

Wir wollen, dies der grosse Plan, eine Genossenschaft gründen, um ganz konkrete Massnahmen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen mit Dir «im Dorf» realisieren zu können; für eine lebenswerte Umwelt mit Zukunft. Stay tuned!

PS: Das Journal mit diesem und neuen Beiträgen findest Du unter der Domain von URS, also von «Umweltradio Schweiz»!